Von Susanne van Veenendaal
Es ist Nacht. Tierschützer wollen in einen Schweinestall einsteigen, um zu filmen, unter welchen Bedingungen die Tiere dort leben müssen. Sind diese Leute kriminelle Einbrecher? So zumindest sehen es vermutlich die betroffenen Landwirte in dem genannten Beispiel. Und auch, wenn in den Medien von Tierschützern die Rede ist, werden oftmals die Begriffe militant oder radikal automatisch vorangestellt. Das suggeriert, dass es sich um gefährliche, fanatische Personen handelt, die unrecht handeln. Die Aktivisten selbst halten ihr Vorgehen naturgemäß nicht nur für gerechtfertigt sondern geradezu für notwendig, um Missstände aufzudecken. Wer von ihnen hat Recht?
Bei der Beantwortung dieser Frage kann das Buch „Widerstand in der Demokratie – Ziviler Ungehorsam und konfrontative Kampagnen“ des österreichischen Physikers und Tierethikers Martin Balluch sehr hilfreich sein.
Martin Balluch: Widerstand in der Demokratie - Ziviler Ungehorsam und konfrontative Kampagnen, Promedia Verlag, ISBN 978-3-85371-304-4
Auf 154 Seiten liefert er den theoretischen Überbau und die demokratiepolitische Rechtfertigung für Tierrechtsaktivismus. Bei seinen Überlegungen bezieht er sich zum großen Teil auf die Strategien und das Wirken des US-amerikanischen Baptistenpastors und Bürgerrechtlers Martin Luther King (1929-1968). Anhand von möglichen (von mir überspitzt formulierten) Vorbehalten gegenüber dem Tierrechtsaktivismus sollen im Folgenden Balluchs Thesen skizziert werden. Darum geht es:
1. Nehmen Tierschützer das Recht einfach in ihre eigene Hand?
2. Die Mehrheit der Bevölkerung hat keine Einwände gegen die Missstände!
3. Konfrontative Kampagne - das klingt nach Radau und Krawall. Ist dem so?
4. Warum machen Tierrechtsaktivisten einen auf Geheimagent?
5. Akzeptieren Tierrechtsaktivisten nicht die demokratisch entwickelten Gesetze?
6. Ist es okay, Gesetze zu brechen?
7. Ist im Aktivismus alles erlaubt?
8. Bloß keine Angst vorm Tierrechtsaktivisten! Soziale Bewegungen hat es immer schon gegeben
9. Martin Luther King: Ein Vorbild für Aktivisten
1. Tierschützer nehmen das Recht einfach in ihre eigene Hand. Das ist nicht in Ordnung, denn das Gewaltmonopol liegt nun einmal beim Staat!
Dass das Gewaltmonopol beim Staat liegt ist grundsätzlich zu bejahen und zu respektieren, schreibt Balluch. Was bedeutet das für die Aktivisten? Sie haben die Strafe für ihre Regelübertretungen zu akzeptieren und in Kauf zu nehmen. Sie halten sich damit an die Spielregeln des Staates.
Auf der anderen Seite müsse sich natürlich auch der Staat an die Abmachungen halten. Ihm sei schließlich nicht einfach so das Gewaltmonopol übertragen und damit einen Freifahrtschein ausgestellt worden, nach Gutdünken zu agieren. Das Gewaltmonopol wird ihm stattdessen nur unter bestimmten Voraussetzungen zugestanden.
Hintergrund: Damit die staatliche Institutionen ihre Macht nicht missbrauchen können, werden dem Bürger Grundrechte zugestanden. Dazu gehören beispielsweise das Recht auf Leben sowie die Demonstrations- und die Meinungsfreiheit. „Diese Rechte sind Ansprüche des Einzelnen gegenüber dem Gewaltmonopol“, erläutert Balluch. Und es geht weiter: Die Bürger haben nicht nur Rechte, der Staat muss bei der Ausübung seines Gewaltmonopols auch verhältnismäßig bleiben. „Auf keine Blockade, keine Besetzung und auch keine Jagdstörung, die gewaltfrei und nur mit passivem Widerstand durchgeführt wird, darf die Polizei mit Gewalt reagieren“, so Balluch. Auch Hausdurchsuchungen, die Bedrohung mit Waffen, die Verhängung von Untersuchungshaft oder gar ein Schuldspruch mit Gefängnisstrafe seien demokratiepolitisch äußerst bedenklich, wenn sie gegen gewaltfreie Aktivisten angewandt werden.
Fazit: Die Tierrechtsaktivisten nehmen das Recht überhaupt nicht in ihre eigene Hand. Sie nutzen lediglich ihre Grundrechte, die ihnen laut Rechtssystem zustehen. Dort, wo sie (gewaltfrei) Regeln übertreten, akzeptieren sie die Sanktionen, die für diese Taten vorgesehen sind, und verhalten sich damit wieder möglichst gesetzeskonform. Das heißt natürlich nicht, dass sich Tierrechtsaktivisten alles erlauben können. Bestimmte Verhaltensweisen sind nicht okay, auch wenn man die Strafe danach annehmen würde. Welche Aktionsformen (und Regelübertretungen) laut Balluch in Ordnung sind, wird unter Punkt 7 deutlich.
2. Offensichtlich hat die Mehrheit der Bevölkerung keine Einwände gegen die vorherrschende Behandlung, Nutzung und Tötung von Tieren. Das müssen die Aktivisten akzeptieren, wir leben schließlich in einer Demokratie!
Woran wird eigentlich festgemacht, dass die Mehrheit der Menschen keine Einwände hat? Weil sie nicht auch gegen Massentierhaltung, Tierversuche und dergleichen protestiert? Weil sie sich also systemkonform verhält? Dieser Argumentation liegt laut Balluch ein Denkfehler zugrunde. Denn das Verhalten eines Menschen ist nicht identisch mit seinen Einstellungen, und eine Änderung der Einstellung bedeutet nicht automatisch eine Verhaltensänderung.
Ein Beispiel: Obwohl eine Mehrheit der Österreicher (86 Prozent) sich 2004 für ein Verbot von Eiern aus Legebatterien aussprach, wurden eben diese Eier dennoch von einer Mehrheit gekauft. 80 Prozent der verkauften Produkte stammten demnach zu diesem Zeitpunkt aus Legebatterien. Wie das? Die Menschen kaufen etwas, was sie eigentlich ablehnen?
Die Erklärung: Das System, oder anders ausgedrückt die Rahmenbedingungen mit der Marktdominanz der Legebatterie-Eier hat das Verhalten der Menschen bestimmt, obwohl sie eine andere Einstellung hatten. Erst eine Änderung der Strukturen (des Systems) brachte auch eine Verhaltensänderung. Ab 2007 wurden in österreichischen Supermärkten keine Käfigeier mehr verkauft. Logischerweise kaufen nun 100 Prozent der Kunden keine Legebatterie-Eier mehr.
Zwischenfazit: Nicht eine Änderung der Einstellung bewirkt eine Verhaltensänderung (zumindest nicht zwangsläufig), sondern nur eine Systemänderung. Den Menschen bleibt in letzterem Fall nichts anderes übrig, als ihr Verhalten anzupassen. Wird ein neues Verhalten zudem länger praktiziert, führt dies später zu einer Einstellungsänderung, so Balluch. Als Aktivist sollte man dementsprechend in erster Linie darauf abzielen, das System zu ändern. Neue gesellschaftliche Zustände lassen sich kaum dadurch erlangen, indem man versucht, dies allein über die Einstellungsänderung der Menschen zu erreichen.
Fazit: Das System bestimmt, wie sich Menschen verhalten. Selbst, wenn Menschen eine andere Einstellung haben, verhalten sie sich in der Regel systemkonform. Deshalb ist die Aussage "Die Menschen wollen gar nicht mehr Tierschutz, sonst würden sie sich anders verhalten" nicht korrekt. Politische Kampagnen richten sich dementsprechend nicht gegen Menschen oder deren Einstellungen, sondern regen Systemänderung an. Es bringt mehr, das System zu ändern, als Menschen ändern zu wollen.
Wichtig für Aktivisten: Der Widerstand gegen das System gelingt nur mit der Sympathie der Bevölkerung im Rücken. Um dieses Wohlwollen nicht zu gefährden, muss der Systemwechsel
a.) in kleinen Schritten erfolgen und
b.) es muss zuvor eine Alternative im Kleinen etabliert werden.
Bei dem österreichischen Kampf gegen Eier aus Käfighaltung wurden beispielsweise zuvor Alternativeier als Nischenprodukt erfolgreich vermarktet. Die Tierschutz-Kampagnen konnten deshalb ihr Ziel erreichen, weil das Sicherheitsbedürfnis der Menschen berücksichtigt und die Stabilität des Systems im Ganzen gewahrt wurde.
Tierschützer können ja gerne ihre Meinung sagen, aber warum muss das so provokant sein?
Es wäre zwar schön, wenn Veränderungen über freundliches Zureden (also positive Kampagnen) bewirkt werden könnten. Doch dem ist leider nicht so, meint Balluch. Einer der Gründe hierfür sei, dass Mächtige ihre Macht niemals freiwillig abgeben. Mit positiven Kampagnen könne man zwar die Sympathie der Bevölkerung gewinnen, aber keine Änderungen vorantreiben. Dennoch müssten sich auch konfrontative Aktionen an gewisse Spielregeln halten. Denn die Öffentlichkeit soll schließlich mit ins Boot geholt, und damit die Politik aktiviert werden. Die Politik entscheidet sich bei ihren Handlungen für die Seite, die die Sympathie der Mehrheit genießt.
3. Konfrontative Kampagne - das klingt nach Radau und Krawall. Ist dem so?
Liest man Balluchs Ausführungen dazu, muss die Antwort nein lauten. Erstens gibt es nur dann eine konfrontative Kampagne, wenn es einen Missstand gibt. Dieser muss belegt werden. Zweitens wird auch dann nicht einfach "drauf los randaliert". Jeder Schritt einer konfrontativen Kampagne ist wohlüberlegt und dient letztendlich dazu, ein Thema in die Öffentlichkeit zu bringen, und den Missstand abzuschaffen.
Wer sich den von Balluch skizzierten Ablauf von konfrontativen Kampagnen anschaut, sieht, dass hierbei nichts Gefährliches oder Angsteinflößendes dabei ist. Die einzigen, für die es unangenehmer werden kann, sind die ausgemachten Verantwortlichen des Missstandes. Die Öffentlichkeit und die Politik hingegen sollen immer auf der eigenen Seite gehalten werden. Die Kampagnen folgen einem bestimmten Drehbuch, dass zwar ansteigende Eskalationsstufen vorsieht, sich aber an bestimmte Regeln hält und niemals ins Respektlose abdriften darf.
Die einzelnen Schritte konfrontativer Kampagnen sehen wie folgt aus:
Vorarbeit:
A.) Die Ungerechtigkeit bzw. der Missstand wird identifiziert. Es muss sodann eine Bestandsaufnahme der Sachlage gemacht werden. Das heißt: recherchieren, Fakten sammeln, Umstände dokumentieren.
B.) Es muss eine machbare Alternative erarbeitet werden. "Nicht jene Ungerechtigkeit, die einen am meisten entsetzt, sondern jene, die die einfachste Alternative hat, ist das dankbarste Kampagnenziel", stellt Balluch fest.
C.) Zu guter Letzt muss geklärt werden, ob die Öffentlichkeit für das Thema mobilisiert werden kann. "Eine gute Alternative lässt sich ohne öffentlichen Druck nicht umsetzen. Und der größte Druck verpufft, wenn es einfach keine machbare Alternative gibt", bilanziert er.
Erst, wenn die Öffentlichkeit grundsätzlich für das Thema sensibilisiert ist, kann an die Politik herangetreten werden. Denn: "In der politischen Praxis sind Regierungen im Normalfall bezüglich Missständen, deren Bekämpfung noch keinerlei öffentliche Unterstützung genießt, unansprechbar", weiß Balluch. Erst der Druck einer konfrontativen Kampagne bringe die Verantwortlichen an den Verhandlungstisch.
Parallel hierzu gilt es
D.) Unterstützung aus der Politik (zum Beispiel aus der Opposition) und von Verbänden (zum Beispiel Bioverbände) zu sichern. In dieser Phase kristallisieren sich zudem die Gruppen heraus, die das Erreichen des Kampagnenziels eher verhindern wollen. "Ziel ist es, die Öffentlichkeit dazu zu bringen, für diese Verhinderer immer weniger Verständnis und Geduld zu zeigen", meint Balluch.
Bevor eine konfrontative Kampagne startet, sollten also
faktische Belege für den Missstand,
eine machbare Alternative,
die Sensibilität der Öffentlichkeit für das Thema,
eine breite Koalition von Verbündeten,
und eine möglichst isolierte Gegnerschaft vorhanden sein.
Und wie ist der Ablauf, wenn die Kampagne tatsächlich begonnen hat?
Moderater Start: Zu Beginn sollten die Aktivisten freundlich, aber bestimmt auf ihr Anliegen aufmerksam machen, rät Balluch. Denn, anfangs sei die Bevölkerungsmehrheit in der Regel noch neutral eingestellt. Deshalb sollten die Aktionsformen zu diesem Zeitpunkt unbedingt einen möglichst positiven Mainstream-Charakter haben.
Nicht nachlassen: Den Aktivisten müsse zudem klar sein, dass, wenn eine Kampagne erst einmal begonnen wurde, die Tätigkeiten nicht mehr nachlassen dürften. Im Gegenteil: Sie müssen - sofern das Ziel noch nicht erreicht wurde - immer intensiver werden. "Finanzstarke Gruppierungen können sich Werbekampagnen leisten, finanzschwache soziale Bewegungen müssen das durch Dauerpräsenz vieler idealistischer AktivistInnen ausgleichen", meint Balluch.
Die Eskalationsschraube: Mit der Zeit, wenn sich nichts tue, dürfe der Ton schärfer werden. "Je länger der Konflikt ohne Reaktion der Verantwortlichen dauert, desto größer werden Unverständnis und Ungeduld der Öffentlichkeit", schreibt Balluch. Dies sei die Eskalationsschraube, die den Aktivisten zur Verfügung stehe. Die Kampagne müsse variiert und den Medien müssten immer neue Storys geboten werden, um den Konflikt am Kochen zu halten.
Die Radikalität der Aktionsformen müsse stetig steigen, insbesondere dann, wenn die Medienaufmerksamkeit nachlasse. Was heißt radikal? "In der höchsten Eskalationsstufe kommt es dann zu Besetzungen, Blockaden und Aktionen des zivilen Ungehorsams", verdeutlicht Balluch. (Welche Aktionsformen es generell gibt und welche Balluch für legitim hält, ist unter Punkt 7 zu lesen)
Der Tipping Point: Die Kunst bestehe darin, ein Gespür für den Tipping Point zu entwickeln. Das heißt, es müsse der nötige Druck erzeugt werden, ohne die Sympathie der Bevölkerung zu verlieren. Heikel sei dabei, dass der politische Gegner jede Eskalation nutze, um Stimmung gegen die Kampagne zu machen und sie als radikal, militant und extrem zu verunglimpfen.
Wichtig für Aktivisten: "Eine erfolgreiche konfrontative Kampagne behält trotz Eskalation die Sympathie der Öffentlichkeit und bringt dadurch die politisch Verantwortlichen unter immer mehr Druck", resümiert Balluch.
4. Wenn Tierrechtsaktivisten für ihre Sache einstehen, warum müssen sie dann einen auf Geheimagent machen?
Warum Aktivisten vorsichtig sein sollten: Solange eine soziale Bewegung nur Aufklärungsarbeit betreibt und positive Kampagnen fährt, ist das Konfliktpotenzial und damit die Gefahr für Aktivisten gering, meint Balluch. Nur leider ändere sich auch wenig an den Zuständen. Anders sei dies bei konfrontativen Kampagnen: Sie greifen – so Balluch - das System an und richten sich gegen etablierte Machtstrukturen. Weil sie damit zwangsläufig den „Machthabern“ und Profiteuren des Systems auf die Füße treten, müssten die Aktivisten eine Sicherheitskultur aufbauen.
Wer Vorsichtsmaßnahmen für übertrieben hält, dem liefert Balluch Beispiele dafür, dass aufseiten von „Machthabern“ und Unternehmen sehr viel Aufwand betrieben wird, um Aktivisten aufs Korn zu nehmen. So sei in Neuseeland 2009 ein verdeckter Ermittler aufgeflogen, der von der Polizei finanziert worden sei, und zehn Jahre lang zahlreiche Organisationen aus den Bereichen Umweltschutz, Tierschutz und Menschenrechte infiltriert hatte - sexuelle Verhältnisse mit mehreren Aktivistinnen inklusive.
Ein weiteres Beispiel: Die Gruppe London Greenpeace sei zeitweilig von Konzernen und Polizei derart unterwandert worden, dass bei manchen Organisationstreffen in den 1990er Jahren mehr verdeckte Ermittler als echte Aktivisten anwesend gewesen seien. Die Ermittler wussten übrigens nichts voneinander.
Was tun Aktivisten konkret, um sich zu schützen?
Anonymität der Informanten: Viele Aktionen sind nur mithilfe von Informanten aus den Institutionen möglich. Sie werden nur mitmachen, wenn ihre Anonymität gewahrt bleibt, so Balluch.
Anonymität der Aktivisten: Auch für Aktivisten kann eine gewisse Anonymität von Vorteil sein. Die Organisatoren von Kampagnen müssen natürlich öffentlich auftreten und für die Sache einstehen, betont er. Doch wer beispielsweise aufgrund seines Berufs Probleme bekommen könnte, sollte sich überlegen, wann er Gesicht zeigt.
Geheimhaltung von Aktionen: Weil manche Aktionsformen gesetzeswidrig sind (Blockaden, Besetzung, offene Befreiung), werden Behörden versuchen, sie zu verhindern. Deshalb sollten die Vorbereitungen geheim vonstatten gehen.
Verdeckte Recherchen: Um Belege für einen Missstand zu erhalten, sind die nötigen Recherchen hierzu manchmal nicht ohne Gesetzesbruch umzusetzen, so Balluch. Bei Kampagnen gegen Legebatterien beispielsweise muss Filmmaterial undercover erstellt werden. Dies gelinge, indem man unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in den Betrieb gelange, oder ihn heimlich in der Nacht betritt. Auch hier gilt: Bekommt jemand Wind von der Aktion, könne sie verhindert werden. Geheimhaltung sei deshalb nötig.
Strafen minimieren: Manche Aktionen ziehen Verwaltungsstrafen und/oder Zivilrechtsklagen nach sich. Wie zuvor beschrieben, müssen Aktivisten Sanktionen gegen ihre Taten akzeptieren. Es spreche aber nichts dagegen, den Schaden möglichst gering zu halten, erläutert Balluch. „Zum Beispiel kann bei einer Besetzungsaktion die Anzahl der BesetzerInnen minimal sein, um die Anzahl der Verwaltungsstrafen in Grenzen zu halten“, verdeutlicht er. Rund um die Planung und Durchführung der Aktion seien möglicherweise noch viel mehr Personen involviert, die allerdings anonym bleiben können.
Hintergrundwissen: In sozialen Bewegungen sei es generell nötig, dass sich die Aktivisten unter anderem mithilfe von Workshops und Vorträgen mit ihren Grundrechten vertraut machen.
Technik: Angesichts zunehmender Überwachungsmaßnahmen der Behörden sei es ratsam, Computer (zum Beispiel mit dem kostenlosen Programm TrueCrypt) und E-Mails (eventuell mit dem Programm GPG) zu verschlüsseln. Damit Telefonate nicht überwacht werden können, sollte ein Pool anonymer Wertkartenhandys zur Ausrüstung gehören.
Misstrauen: Ein gesundes Maß an Misstrauen ist für Balluch genauso wichtig, wie eine Offenheit gegenüber Leuten, die sich ebenfalls engagieren möchten. Außerdem sollten nie mehr Personen als nötig in Aktionen eingeweiht werden.
5. Tierrechtsaktivisten sollen nicht so tun, als wenn sie sich für eine bessere Gesellschaft einsetzen, schließlich akzeptieren sie nicht die demokratisch entwickelten Gesetze. Sie stellen sich gegen den Willen der Allgemeinheit!
Im Gegenteil: Aktivisten stehen im Dienste der Demokratie, findet Balluch. Durch ihr Handeln gleichen sie ein verzerrtes Kräfteverhältnis und dadurch entstandene Gesetze aus.
Was heißt das genau? „Grundsätzlich kann man sagen, dass alles, was die offene, öffentliche Diskussion fördert, demokratiepolitisch legitim ist, und alles, was die offene, öffentliche Diskussion behindert, demokratiefeindlich ist“, erläutert er. Nun sei es so, dass Gesetze auch in einer Demokratie nicht unbedingt durch den Mehrheitswillen des Wahlvolkes entstehen, sondern durch den undemokratischen Einfluss mächtiger Interessenverbände.
Lobbygruppen mit direktem Zugang zu den Machtzentren, einseitig agierende Behörden, beschränkter Zugang zu Informationen und die Einschränkung von Ausdrucksmöglichkeiten – aus all diesen Faktoren ziehe der politische Aktivismus die Rechtfertigung für seine Aktionsformen.
6. Ist es also okay, Gesetze zu brechen?
Balluch: Unter bestimmten Voraussetzungen ja - aber nur, wenn man die Strafe annimmt.
Hintergrund: Balluch zitiert zunächst den australischen Philosophen und Vordenker der Tierrechtsbewegung Peter Singer. Singer betone, dass ein Gesetz, das durch einen überproportionalen Einfluss einer mächtigen Gruppe zustande gekommen ist, aus Überlegungen der Fairness in einer Demokratie nicht befolgt werden muss.
Anmerkung: Peter Singer ist nicht unumstritten, was Positionen jenseits der Tierethik betrifft. Für Kritik sorgen unter anderem folgende Ansichten: Seiner Meinung nach sollten Eltern das Recht und die Möglichkeit haben, Embryos mit schweren Behinderungen abzutreiben. Auch hält Singer es in gewissen Fällen für gerechtfertigt, wenn Eltern ihre nicht lebensfähigen Neugeborenen töten.
Auch zur Sterbehilfe hat er eine klare Haltung. Wer sein Leben nicht mehr für lebenswert hält und einen vernünftigen Grund hat zu glauben, dass sich das nicht ändert, solle Zugang zu einem Sterbemittel bekommen.
(Quelle unter anderem: neuesruhrwort.de)
Singer ist nicht der Einzige, der meint, das manche Gesetze nicht befolgt werden müssen, erläutert Balluch. So habe beispielsweise Martin Luther King bei seinen Kampagnen regelmäßig Gesetze und Erlasse, die seine Dauerdemonstrationen einschränken sollten, offen gebrochen. King spreche von einer ethischen Verpflichtung, ungerechte Gesetze nicht zu befolgen. Ungerecht sei ein Gesetz zum Beispiel, wenn es Personen zu Dinge degradiere – wie das die Rassentrennungsgesetze in den Südstaaten der USA in den 1960er Jahren getan hätten.
King habe allerdings betont, dass ungerechte Gesetze offen, mit Liebe und der Bereitschaft, die vorgesehene Strafe zu tragen, gebrochen werden müssten, damit das Vorgehen demokratisch legitim bleibe. „Das Ziel dieses Rechtsbruchs sei es, das Gewissen der Gesellschaft wachzurütteln“, schreibt Balluch über Kings Argumentation.
Auch der österreichische Ethik-Professor Kurt Remele stehe einem blinden Gesetzesgehorsam kritisch gegenüber. Begründung: Jede Gesellschaft unterliege nach Remele einer ethischen Entwicklung. Die Rechtsnormen zögen dieser Entwicklung zeitverzögert nach. Anders ausgedrückt: Die Moralvorstellungen einer Gesellschaft wandeln sich immerzu, doch die Gesetze hinken hinterher.
Anmerkung von mir: Auch in anderen Lebensbereichen lässt sich beobachten, dass Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung nur zeitverzögert folgen. Oder klingt es nicht merkwürdig, dass in Deutschland beispielsweise erst 1957 der sogenannte Gehorsamsparagraph (§ 1354 des Bürgerlichen Gesetzbuches) gestrichen wurde, der bedeutete, dass der Mann in der Ehe jede Entscheidungsbefugnis hat. Und erst 1997 wurde Vergewaltigung in der Ehe strafbar. Das Merkmal außerehelich wurde aus dem Tatbestand der Vergewaltigung, § 177 StGB, gestrichen.
Quelle: www.bundestag.de
Zurück zum Thema: Es könne, so Remele, also durchaus legitim sein, die Anpassung der Rechtsnormen durch offenen Gesetzesbruch zu motivieren. Das Problem hierbei sei jedoch, dass Teile der Bevölkerung aus Angst vor Anarchie und Gesetzlosigkeit die Überzeugung entwickelt habe, Gesetze müssten allein schon der Ordnung halber ohne Ausnahme eingehalten werden. Remele nennt diese These „Law and Order“. Besser sei es seiner Ansicht nach aber, Gerechtigkeit über Ordnung zu stellen. Seine entsprechende Gegenthese bezeichnet er daher als „Law and justice“.
Gehorsam gegenüber Regeln und Autoritäten dürfe nie taub und blind gegenüber Ziel und Inhalt der Regeln machen. „Wer fordere dass jedes Gesetz ausnahmslos immer dem Buchstaben nach zu befolgen sei, wünsche keine vernünftig denkenden StaatsbürgerInnen, sondern gedankenlose Untergebene und SklavInnen“, zitiert Balluch Remele.
Laut Peter Singer, Martin Luther Kind und Kurt Remele ist es demnach in Ordnung, ungerechte oder undemokratisch entstandene Gesetze zu brechen. Doch wann genau darf man das?
Um dies zu beantworten, beruft sich Balluch auf Robert Garner. Garner ist Professor für Politikwissenschaften an der englischen University of Leicester, und beschäftigt sich insbesondere mit der Tierrechtsidee. Seiner Meinung nach gibt es drei Hauptgründe, weshalb Gesetzesübertretungen im politischen Aktivismus gerechtfertigt sind:
1. Intransparenz/Geheime Machenschaften von Unternehmen: Wenn Firmen ihre Tätigkeiten geheim halten (wenn zum Beispiel Art und Anzahl von Tierversuchen oder die Verhältnisse in Tierfabriken vor der Öffentlichkeit verborgen werden), dann könne keine öffentliche Diskussion und dementsprechend auch keine gesetzliche Anpassung stattfinden. Damit werde Demokratie verhindert. Gerechtfertigt sind laut Garner in so einer Situation beispielsweise die illegale Beschaffung und Veröffentlichung der Informationen.
2. Mauscheleien und Vetternwirtschaft: Wenn (finanzstarke) Gruppierungen bzw. Lobbygruppen unlauteren Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen, weil sie mit den Politikern „Freunderlwirtschaft“ betreiben, dann seien die hieraus entstandenen Gesetze nicht demokratisch legitimiert. Deshalb müsse man diese Gesetze aus demokratiepolitischen Gründen auch nicht befolgen.
3. Macht durch Geld: Wer mehr Geld hat, kann mehr Einfluss auf die Öffentlichkeit nehmen – zum Beispiel durch Werbung und Öffentlichkeitsarbeit. Finanzstarke Interessenvertretungen haben also einen undemokratischen Vorteil gegenüber ärmeren Gruppen. Dadurch wird laut Garner die offene Diskussion und damit die demokratische Entwicklung verhindert.
Fazit laut Balluch: Gesetze spiegeln nicht die Interessen aller wider, sondern Mächtige haben mehr Einfluss auf Gesetze. Deshalb ist Widerstand zulässig.
Es zeigt sich laut Balluch, dass auch in einer pluralistisch-demokratischen Gesellschaft nicht automatisch das größte Gemeinwohl zutage tritt, weil zuvor ein demokratisch ausgetragener Interessenkonflikt stattgefunden habe. Die Realität sehe so aus, dass sich die Interessen desjenigen weitgehend durchsetzen werden, der mehr Macht hat. Wenn dann auch noch die staatlichen Instanzen – und davon ist Balluch überzeugt – sich auf die Seite der Mächtigen schlagen, dann sei der gesetzeswidrige Widerstand zulässig und teils sogar geboten.
Außerdem: Liegt überhaupt eine Gesetzesübertretung vor? Selbst Juristen sind sich oft nicht einig
Blinde Regelkonformität dürfe schon allein deshalb nicht der Maßstab aller Handlungen sein, weil oftmals gar nicht klar zu sagen ist, ob überhaupt eine Gesetzesübertretung stattgefunden habe.
Was heißt das Konkret? Der politische Aktivismus befinde sich in einem Graubereich der Legalität, in dem selbst die Juristenwelt oftmals uneins sei, wie die Taten einzustufen sind, erläutert Balluch. Um dies zu belegen, nennt er mehrere Verfahren gegen Tierschützer wegen des Verdachts verschiedener Gesetzesübertretungen. Bei all den genannten Fällen sei es zu Freisprüchen gekommen. Das bedeute, die Richter hätten ein und dasselbe Geschehen völlig anders bewertet, als dies die jeweiligen Staatsanwälte, die schließlich Strafanträge gestellt haben, zuvor getan hätten.
7. Ist im Aktivismus jetzt also alles erlaubt?
Balluch: Nein, keinesfalls.
Aktionen sind laut Balluch nur dann in Ordnung, wenn sie die öffentliche Diskussion fördern. Über die Diskussion wiederum sollen Veränderungen herbeigeführt werden. Dafür müssen die Verantwortlichen an den Verhandlungstisch gebracht werden – notfalls eben mit öffentlichem Druck.
Was nicht erlaubt ist, fasst Balluch in vier Punkten zusammen:
1. Gewalt (im Sinne von: der körperlich Stärkere setzt sich durch)
2. Psychischer oder physischer Druck (z.B. Drohbriefe, Mobbing)
3. Angst verbreiten
4. Schadensdruck (Sachbeschädigung darf höchstens Symbolcharakter haben, sie darf beispielsweise nicht einen Betrieb ruinieren, um dadurch ein politisches Ziel zu erreichen)
Balluch bezieht sich hier erneut auf Martin Luther King. King habe die demokratiepolitisch legitimen Aktionsformen als „nonviolent direct action“ bezeichnet. Gewaltfreier Druck sei hierbei erlaubt und auch notwendig, da privilegierte Gruppen ihre Privilegien niemals freiwillig aufgeben würden.
Anhand der genannten Kriterien nimmt Balluch nun verschiedene Aktionsformen unter die Lupe, und bewertet sie als legitim oder eben nicht.
Sind laute und emotionale Demonstrationen okay?
Balluch: Ja, aber...
Sie sind okay, solange sie nicht bedrohlich oder gewalttätig werden. Allein die Tatsache, dass eine Demo andere Bürger möglicherweise stört, zähle nicht als Gegenargument, meint Balluch. Martin Luther King habe beispielsweise oftmals Demonstrationsverbote ignoriert, und trotzdem Demos abgehalten. Er habe aber sorgsam darauf geachtet, dass das Verhalten der Demonstranten nicht bedrohlich oder gar gewalttätig geworden sei.
Sind Dauerdemonstrationen in Ordnung?
Ja.
Und zwar aus den gleichen Gründen wie bei den lauten, emotionalen Demos.
Sind „Home Demos“ für Balluch legitim?
Nein, auf keinen Fall.
Demos vor den Privathäusern von Verantwortlichen schüchtern lediglich die jeweilige Person ein. Sie führen nicht zu einer demokratischen Diskussion.
Anmerkung von mir: Aktionen dieser Art kommen gelegentlich vor. Beispiele aus anderen Bereichen:
So haben niedersächsische Polizeikräfte im April 2021 das Wohnhaus von Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) vor Demonstranten der sogenannten »Querdenker«-Szene geschützt. Die angekündigte Demonstration, mit der gegen Corona-Maßnahmen protestiert werden sollte, blieb aus.
(Quelle: www.spiegel.de/panorama)
Anderes Beispiel: Rund 100 Mitglieder der Gewerkschaft IG BCE sind im Oktober 2018 in Nordrhein-Westfalen vor das Haus der prominenten Waldschützerin und Mitglied der Kohlekommission Antje Grothus aufmarschiert. Die Gewerkschaft distanzierte sich.
(Quelle: www.welt.de/regionales)
Ist ein Boykott vertretbar?
Balluch: Ja.
Es handele sich hierbei um eine klassische Protest-Methode. So habe Gandhi (1869-1948), Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung und neben Martin Luther King ein weiterer herausragender Vertreter im Freiheitskampf gegen soziale Ungerechtigkeit, zum Boykott britischer Produkte aufgerufen. Dies war Teil seines gewaltfreien Kampfes gegen die Kolonialherrschaft der Briten.
Und Martin Luther King habe beispielsweise einen Busboykott organisiert. Hintergrund: Schwarze durften zu dem Zeitpunkt, Mitte der 1950er Jahre, in Alabama nur bestimmte Sitze in den Bussen nutzen.
Balluch lässt allerdings auch ein dunkles Kapitel von Boykott-Aufrufen nicht unerwähnt: als die Nazis zum Boykott jüdischer Geschäfte aufriefen. Hierbei lägen jedoch andere, inakzeptable Merkmale vor: So sei der Boykott mit Gewalt und Drohungen einhergegangen. Zudem habe sich die Aktion gegen eine Minderheit gerichtet, und nicht gegen eine unethische Praxis.
Undercover Recherche? (Beispielsweise das Eindringen in Tierställe, um Missstände zu zu filmen oder zu fotografieren, um sie zu dokumentieren)
Balluch: Ja!
Diese Form der Recherche gleiche schließlich lediglich das Vertuschen von Missständen und Zurückhalten von Informationen aus.
Es ist aber Folgendes zu beachten (zum Beispiel beim Eindringen in Tierställen): Es dürfen keine Sachschäden verursacht und keine Spuren hinterlassen werden. In diesem Fall liege in Österreich noch nicht einmal Hausfriedensbruch vor. Es sei dann nämlich keine Gewalt angewandt worden und es handele sich zudem auch nicht um eine Wohnstätte.
Juristisch sei so ein unbemerktes Eindringen damit vergleichbar, kurz auf der Einfahrt von jemandem zu parken und wieder wegzufahren, bevor die Besitzer es gemerkt haben. „Das ist trotzdem nicht in Ordnung!“, könnte manch einer einwenden. Balluch hingegen hält es nicht nur für legitim, sondern geradezu für begrüßenswert. Denn dieser kleinen Normverletzung stehe die enorme demokratiepolitische Bedeutung der Veröffentlichung von Informationen gegenüber.
Anmerkung von mir: Von deutschen Gerichten wird dies unterschiedlich bewertet. So sprachen beispielsweise das Amtsgericht Haldensleben, das Landgericht Magdeburg und das Oberlandesgericht Naumburg drei angeklagte Tierschützer 2018 vom Vorwurf des Hausfriedensbruchs frei. Die Tierschützer hatten in einer Schweinezuchtanlage Verstöße gegen das Tierschutzgesetz mittels Filmaufnahmen aufgedeckt.
In einem anderen Fall sieht dies anders aus: So wurde der Aktivist Jonathan Steinhauser von mehreren Instanzen – unter anderem 2017 vom Landgericht Heilbronn - wegen Hausfriedensbruch verurteilt. Er war 2015 in einen Putenstall eingedrungen, und hatte dort gefilmt. Das Gericht hatte argumentiert, dass der Hausfriedensbruch deswegen nicht durch einen Tierschutznotstand zu rechtfertigen ist, weil schlimme Zustände in der Massentierhaltung allgemein bekannt und vom Gesetzgeber wie der Gesellschaft geduldet sind. (Quelle: Erna-Graff-Stiftung für Tierschutz)
Wildplakatieren und Graffiti?
Balluch: Ja, aber...
Einmal ja und einmal ein „Eventuell“. So lange die Plakate, Poster und Zettel rasch und spurenlos wieder entfernt werden können, sieht Balluch darin kein Problem. Bei den Graffiti ist seine Meinung nicht ganz klar zu erkennen. Er zitiert hier unter anderem den neuseeländischen Journalisten und Friedensaktivisten Nicky Hager, der Graffiti als Ausdruck der Meinungsfreiheit sieht – sofern es auf öffentlichen Flächen wie Autobahnbrücken oder Unterführungen angebracht sei.
Ist eine Störung von Veranstaltungen (z.B. Pelzmodenschau) und Treibjagden (Jagdsabotage) okay?
Balluch: Ja, aber...
Prinzipiell ja, wenn die Aktion gewaltfrei ist und sich niemand bedroht fühlt – auch, wenn sich eine gewisse konfrontative Situation nicht vermeiden lässt.
Achtung: Eine Gegendemonstration gegen die Demonstration eines politischen Gegners darf die andere Partei nicht daran hindern, ihre Position zu äußern. Dieses widerspricht laut Balluch den Grundsätzen der Demokratie.
Sind Blockaden akzeptabel?
Balluch: Ja, aber...
Ja, solange sie friedlich und gewaltfrei sind. Ein gutes Beispiel für eine erfolgreiche Blockade ist für Balluch die Besetzung der Hainburger Au in Österreich 1984. 10 000 Menschen hätten hierbei Baufahrzeuge blockiert, die für eine Firma im Urwald der Donauauen ein Wasserkraftwerk bauen wollte. Es kam zu eine großen öffentlichen Debatte, das Projekt wurde gekippt, das Gelände ist nun ein Nationalpark. In der Tierschutzszene sei eine typische Blockadeform, das Aufhalten vor Tiertransporten (u.a. durch Aktivisten die sich festketten). Hierdurch soll die Öffentlichkeit aufgerüttelt und Kontrollen eines Amtstierarztes erzwungen werden.
Wie sieht es mit Besetzung aus?
Sind in Ordnung, wenn sie gewaltfrei sind und aus passivem Widerstand bestehen – und zumeist alle anderen Aktionsformen wenig Gehör gefunden haben. Typisch seien hier die Besetzung von Büros hochrangiger Politiker, die Missstände dulden bzw. nichts gegen sie unternehmen.
Run-in, Walk-in, Kneel-in, Talk-in, Pray-in?
Balluch: Ja, aber...
Balluch hält alle genannten Aktionsformen für demokratiepolitisch in Ordnung, unter der Voraussetzung, dass sie - ebenso wie andere Demonstrationen - gewaltfrei und unbedrohlich ablaufen. Bei einem Run-in müsse man dementsprechend aufpassen, dass die Aktion auf niemanden einschüchternd wirkt.
Eingeführt hatte diese Massenaktionen laut Balluch Martin Luther King. Bei einem Kneel-in betraten Schwarze beispielsweise eine Kirche, die nur für Weiße zugelassen war, und knieten sich dort einfach mit den anderen hin. Bei einem anderen Mal kam es zu einem Sit-in, als Aktivisten in eine Mensa gingen, die ebenfalls nur für Weiße war, sie setzten sich hin und bestellten essen. Im Tierschutzbereich gab es unter anderem schon Walk-ins (Aktivisten gehen in ein Kaufhaus, das Pelz führt, und tragen Protestplakate) und Lie-ins (Aktivisten legen sich dort einfach auf den Boden).
Rechtlich gesehen handelt es sich bei diesen Aktionsformen laut Balluch um unangemeldete Demonstrationen in Privaträumen. Man begehe dann schlimmstenfalls eine Verwaltungsübertretung (ein Begriff aus der österreichischen Rechtssprache) oder eine Besitzstörung. Zur Erklärung: Eine Besitzstörung liegt zum Beispiel auch vor, wenn ein Falschparker die einzige Zufahrt zu einem Grundstück blockiert, oder wenn Werbung trotz eines Verbots in einen Briefkasten geworfen wird. (Quelle: Hanns Prütting/Friedrich Lent/Karl H. Schwab: Sachenrecht, C.H. Beck, 2008, Rn. 125, ISBN 3406489117.)
Offene Befreiung?
Balluch: Ja.
Balluch versteht hierunter die Befreiung von Tieren aus einer Zwangslage - beispielsweise aus Versuchslaboren oder Tierfabriken. Sie sollen dann medizinisch betreut und dann in eine gute Pflegestelle gegeben werden. bei der Befreiung sollen keine Spuren hinterlassen, und keine Sachen beschädigt werden. Die Aktivisten bekennen sich zur Tat, und fordern Staatsanwaltschaft heraus, sie zu belangen. Hierdurch soll Öffentlichkeit für das Thema hergestellt werden.
Fazit: Die Tat fördert eine öffentliche Diskussion, macht Konfliktlinien publik und fordert das System heraus, Stellung zu beziehen. Der Schaden für die betroffene Firma ist auf der anderen Seite nur symbolischer Natur.
In Österreich habe es schon viele Tierbefreiungen gegeben, aber in der Regel seien noch nie Aktivisten dafür gerichtlich verurteilt worden, so Balluch.
Offene Sachbeschädigung?
Balluch: Schwierig, aber ja....
Balluch nennt hier Beispiele, bei denen zwar hohe Sachschäden entstanden sind, die aber mit absoluter Gewaltfreiheit punkten. Bei einem Beispiel geht es um eine Gruppe aus Schweden, die in Schlachtöfen und Brütereien hohen Sachschaden angerichtet hätten. Nach der Tat hätten sie auf die Mitarbeiter gewartet, ihnen Kuchen und Blumen überreicht, und sich dann widerstandslos festnehmen lassen. Unter dem Strich hält Balluch Aktionen dieser Art für okay, da sie die öffentliche Debatte förderten und absolut gewaltfrei (abgesehen vom Sachschaden) abgelaufen seien.
8. Bloß keine Angst vorm Tierrechtsaktivisten! Soziale Bewegungen hat es immer schon gegeben
Laut Balluch habe es schon immer soziale Bewegungen gegeben, die zu ihrer Zeit als unangemessen angesehen worden seien, ohne die es aber viele Errungenschaften unserer Gesellschaft nicht geben würde. Er nennt unter anderem die sexuelle Revolution, die Befreiung der Frau, die Entwicklung von Kinderschutz, Tier- und Umweltschutz, Arbeits- und Sozialrechte, die Ehescheidung, Fristenlösung bei Schwangerschaftsabbrüchen, Trennung von Kirche und Staat. All dies sei gegen den Widerstand der Mächtigen erkämpft worden, und habe zu einem Anstieg von Lebensqualität geführt.
Eigene Ergänzung:
Beispiel Frauenrecht: Auch in Deutschland gab es bekanntermaßen nicht immer eine Gleichberechtigung von Mann und Frau. Erst 1958 trat das Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau in Kraft. Ab diesem Zeitpunkt dürfen Frauen offiziell ein eigenes Konto haben und selbst ihr eigenes Geld (auch in die Ehe mitgebrachtes Vermögen) verwalten.
Bis 1958 darf der Ehemann zudem entscheiden, ob die Frau arbeiten gehen darf. Trotz dieses Erfolgs darf sie auch dann nur arbeiten gehen, wenn sich dies mit ihren ehelichen Pflichten und der Familie vereinbaren lässt. Dies ändert sich 1977, als die Reform des Ehe- und Familienrechts in Kraft tritt. Das heißt, ab diesem Zeitpunkt gibt es keine gesetzlich vorgeschriebene Aufgabenverteilung mehr. Auch die Schuldfrage hat bei einer Scheidung nun nichts mehr zu suchen. Und es müssen nicht mehr beide Eheleute der Scheidung zustimmen, um sie zu ermöglichen. All diese Änderungen sind gegen gesellschaftlichen Widerstand durchgeboxt worden.
Beispiel Umweltschutz: Heute ist es normal, dass Firmen nicht einfach ihre Chemieabfälle ins Meer kippen dürfen. Doch vor wenigen Jahrzehnten sah niemand ein Problem darin. Die ersten, die dagegen protestierten wurden anfangs auch verlacht und als radikal beschimpft. Im Oktober 1980 fand die erste Aktion von Greenpeace Deutschland statt. Aktivisten blockierten in Nordenham mit Rettungsinseln den Tanker „Kronos“. Er soll wie so oft Dünnsäure, also Chemieabfälle, des Unternehmens Kronos-Titan in die Nordsee bringen und dort verklappen. Dies war zu dem Zeitpunkt gängige Praxis und wurde von den zuständigen Behörden genehmigt. Es war also rechtens.
Sieben Jahre lang protestierten die Aktivisten mit gewaltlosen, direkten Aktionen gegen diesen Zustand. Sie blockierten beispielsweise die Werkseinfahrt des Unternehmens, ketteten sich mit Schlauchbooten an die Tanker oder sprangen selbst ins Wasser. Die Protestierenden wurden erst belächelt, dann unterstützt. Dann lenkte Kronos-Titan ein.. 1987 wurde eine Dünnsäure-Aufbereitungsanlage in Blexen errichtet. Dünnsäure, das ist verdünnte Schwefelsäure, die als Abfall bei der Herstellung von Titandioxid entsteht. Greenpeace schüttete zudem kranke Fische vor die Tore der Genehmigungsbehörde in Hamburg. Aus Gesichtspunkten des Tierschutzes wohl eher fragwürdig.
Am Ende ging der Plan auf. Seit 1990 ist die Verklappung von Dünnsäure in der Nordsee verboten. Großbritannien stellte die Verklappung im Jahr 1993 ein.
9. Martin Luther King: Ein Vorbild für Aktivisten
Ein Name, der in Balluchs Buch sehr oft vorkommt, ist Martin Luther King. Der ehemalige US-amerikanische Baptisten-Priester ist für Balluch eine Autorität auf dem Gebiet der politischen Kampagnenarbeit und des zivilen Ungehorsams. King wurde 1929 in Alabama, also in den Südstaaten geboren. Er studierte Theologie und wurde Priester der Baptisten. Mitte der 1950er wurde er eine führende Figur in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung.
Hintergrund: Diese Bewegung wurde 1955 von der Amerikanerin Rosa Parks ausgelöst, als sie sich weigerte, ihren Platz im Bus, der nur für Weiße bestimmt war, herzugeben. Sie wurde festgenommen. Dies löste den Busboykott von Montgomery aus. 381 Tage lang boykottierte die afroamerikanische Bevölkerung Montgomerys die städtischen Busse. Dies sorgte weltweit für Aufsehen. Ende 1956 erklärt der Oberste Gerichtshof der USA die Rassendiskriminierung in Bussen in Montgomery für verfassungswidrig und hebt sie auf.
Quelle: www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell
King war von Anfang an maßgeblich an der Organisation des Boykotts und anderen konfrontativen Kampagnen beteiligt. Er entwickelte die Protestform der nonviolent direct actions.
Für seinen Aktivismus musste er einiges erdulden: Man bezeichnete ihn als Kommunisten, Verräter seines Landes und notorischen Lügner. Zwischen 1955 und 1968 saß er mehr als 20 Mal im Gefängnis. Als er 1963 im Gefängnis saß, forderten ihn acht Sprecher der größten religiösen Strömungen der USA auf, seine politischen Kampagnen zu beenden. Sie warfen ihm vor, ein Extremist, Gesetzesbrecher und Anarchist zu sein.
In einem Brief antwortete King ihnen unter anderem, warum er in Birmingham, Alabama auf nonviolent direct actions und nicht mehr auf Verhandlungen gesetzt hat. Erstens habe sich die Stadtregierung zunächst immer wieder geweigert, in ehrlich gemeinte Verhandlungen einzutreten. Dann habe man, so King, die Demonstranten mit falschen Versprechen monatelang hingehalten. Erst dann seien er und seine Unterstützer zu den nonviolent direct actions übergegangen.
Diese haben den Zweck, Verhandlungen herbeizuführen. Sie dienen dazu, eine Krise herbeizuführen, und eine angespannte Situation in der Gesellschaft herbeizuführen, bis die jeweils andere Seite wieder zu Verhandlungen bereit ist. Das Thema solle so lange dramatisiert werden, bis es nicht mehr ignoriert werden könne.